„Der Islam muss wieder Barmherzigkeit in den Mittelpunkt rücken“

Der Psychologe und Islamismus-Experte über die Identitätssuche und die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher.

Ansbach, Würzburg, Essen, Hannover – diese Städte stehen heute für islamistische Attacken in Deutschland. Bisher hatten wir Glück, und nun erleben wir den Terror vor der eigenen Haustür. Wie kann es passieren, dass sich vor allem junge Menschen in Deutschland so radikalisieren?

Radikalisierung ist kein deutschlandspezifisches Phänomen, sondern ein globales Problem. Die Ideologie kennt hier keine Grenzen. Was ich allerdings hier in Deutschland seit Jahren bemerke ist, dass bestimmte radikale Gruppierungen durch Ideologisierung und Verbreitung ihres Weltbildes eine Vorarbeit geleistet haben. Das hat dazu geführt, das inzwischen überall in Europa Anschläge stattgefunden haben. Jetzt trifft es auch uns und wird uns wahrscheinlich auch in Zukunft treffen. Nun brauchen wir eine klare Strategie, wie wir damit umgehen. Wir müssen die jungen Menschen früher erreichen als die Islamisten.

Welche Fragen haben die Jugendlichen an unsere Gesellschaft, deren vermeintliche Antworten sie dann bei den Islamisten gefunden zu haben glauben?

Bei den jungen Menschen handelt es sich um suchende Menschen. Menschen, die oft Zurücksetzungen in ihrem Leben erfahren haben. Nun plötzlich empfinden sie ein Gefühl von Heimat, innere Ruhe und Geborgenheit in dieser islamistischen Ideologie. Ihnen wird das Gefühl vermittelt, nun zu einer Art Elite zu gehören, und dass Gott auf ihrer Seite ist. Sie haben plötzlich eine Mission, eine Aufgabe und erhalten eine klare Identität. Alles Dinge, die unsere Gesellschaft ihnen nicht bieten kann. Sie können gegen die Gesellschaft rebellieren, gegen ihre Eltern rebellieren. Das sind Bedürfnisse, die ihnen die islamistische Ideologie vorgaukelt, nun befriedigen zu können. Die Bedürfnisse sind psychologisch, die ideologische Antwort auf diese Bedürfnisse ist religiös.

Findet diese Ideologisierung in den Moscheen statt? Oder wie kommen die jungen Menschen mit islamistischer Ideologie in Berührung?

Natürlich gibt es in Deutschland Moscheen, in den die wahhabitische Richtung des sunnitischen Islams propagiert wird, und gemäß seiner Ausrichtung der Anspruch erhoben wird, alleine den Islam authentisch zu vertreten. Junge Menschen, die in dieser Ausrichtung aufwachsen, sind später natürlich viel leichter für Islamisten zu erreichen. In der Regel findet die Berührung mit der islamistischen Ideologie aber durch Kontaktpersonen statt, die für junge Menschen zu Bezugspunkten werden. Diese sprechen die Jugendlichen nicht nur in der Moschee an, sondern gehen in die Lebenswelten der jungen Menschen. Sie sind an Schulen, in Jugend-Clubs, auf der Straße und rekrutieren dort ihren Nachwuchs. Und dann kommt als Brandbeschleuniger noch das Internet hinzu. Wenn der Jugendliche erst einmal den Zugang zu der Ideologie gefunden hat, dann hat er oder sie dort einen quasi unbegrenzten Zugang zu den Informationen, die ihn dann weiter radikalisieren.

Immer wieder haben wir in den letzten Wochen etwas über eine „Turboradikalisierung“ gelesen. Wenn ich Sie höre, dann scheint mir so eine Radikalisierung von heute auf morgen doch recht abwegig?

Richtig, „Turboradikalisierung“ gibt es nicht. Das war ein untauglicher Versuch zu erklären, dass die Sicherheitsapparate in unserem Land versagt haben. Die Ideologie ist viel stärker als jegliche Struktur. Die Sicherheitsbehörden haben nach Strukturen gesucht. Sie konnten sich die Radikalisierung der jungen Männer nicht erklären. Wenn man aber in einer Gedankenwelt lebt, die andere Menschen abwertet, dann kann sich das kleinste Ereignis, zum Beispiel eine kritische Lebenssituation, zur gefährlichen Eigendynamik entwickeln. Das ist keine „Turboradikalisierung“, sondern ein langer Prozess. Die Werte und die Ideologie tragen diese jungen Menschen meistens schon sehr lange in sich, unbemerkt von den Sicherheitsbehörden.

„Halal“ und „Haram“ (rein und unrein), Gut und Böse: Die Welt von Extremisten bewegt sich immer zwischen zwei entgegengesetzten Polen und vereinfacht am Ende auch komplexe Probleme. Wie kann man Menschen, die sich ideologisch in so einer Welt ohne Zwischentöne eingerichtet haben, als Gesellschaft noch erreichen?

Das kann man nur in Integrationskursen oder innerhalb der Familien erreichen. Dazu braucht es aber Menschen, die sich auskennen. Menschen die in vertiefte Gespräche gehen und befähigt sind, die radikalen Tendenzen zu erkennen. Das schafft man nicht durch das Schauen auf die Bartlänge, um daraus Rückschlüsse auf eine Radikalität zu ziehen. Ich muss mir das Verhalten meines Gegenübers anschauen, seine Argumentation wahrnehmen, um dann Rückschlüsse auf sein Weltbild ziehen zu können. Radikale Ideologien werden immer erst sichtbar, wenn man in den Dialog mit den Menschen tritt.

Die „Generation Allah“, wie Sie sie bezeichnen, sind Menschen, die in der dritten Generation in Deutschland leben. Ist die Integration der Menschen hier gescheitert?

Wenn ich mir jetzt die jüngste Pro-Erdogan-Demonstrationen in Köln ansehe, wo gebildete Menschen der dritten Generation hier in Deutschland auf die Straße gehen und Erdogan als ihren Präsidenten bezeichnen, dann muss man von einer gescheiterten Integration sprechen. Das müssen wir in aller Deutlichkeit sagen können. Viele dieser Menschen sind nicht in Deutschland angekommen, weil ihnen in ihrem Umfeld, in ihren Familien andere Werte vermittelt werden. Wir haben diese Menschen nie abgeholt. Vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise muss es nun darum gehen, nicht wieder die gleichen Fehler zu machen. Das wird nicht einfach, aber ist machbar.

Sie verweisen immer wieder darauf, dass man die Gewalt nicht einfach vom Islam trennen kann.

Der Satz „Das hat nichts mit dem Islam zu tun!“ ist der Versuch, die Verantwortung abzugeben. Das rettet keinen jungen Menschen. Das hat sehr wohl etwas mit einem politischen Islam zu tun. Es ist ein politisches Islamverständnis, das Feind- und Opferrollen schafft, das patriarchale Strukturen unterstützt, das das Leben verachtet. Genau dieses Islamverständnis kann zur Radikalisierung führen. Das ist genau das Problem, das wir innerislamisch bearbeiten müssen. Wir müssen den jungen Menschen ein Islamverständnis anbieten, das mit radikalen Tendenzen nichts mehr zu tun hat.

Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht in diesem Zusammenhang die islamischen Verbände?

Man wertet diese Verbände auf und gibt ihnen viel Macht, die sie nicht verdient haben. Ich sehe sie als Teil des Problems, solange sie das konservative Islamverständnis in sich tragen. Sie können nicht Teil der Lösung sein, solange sie die Opfer- und Feindbilder verbreiten, die von den Radikalisierern als Einstieg verwendet werden. Sie unkritisch als Partner anzusehen, das halte ich für das falsche Signal. Die Verbände hätten aus meiner Sicht die Aufgabe, einen Islam in Deutschland aufzubauen, der nicht abhängig ist von den Herkunftsländern und nicht auf Erdogan oder Saudi-Arabien setzt. Die Verbände können nur Partner in der Deradikalisierung sein, wenn sie ein Islamverständnis verbreiten, das ohne Wenn und Aber hinter Demokratie und Menschenrechten steht. Einem Islam, der nicht von Opfer- und Feindbildern lebt, sondern kritisches Denken einfordert. Einem Islamverständnis, das wieder Barmherzigkeit in den Mittelpunkt rückt.

Ahmad Mansour ist Psychologe, Programmdirektor der „European Foundation for Democracy“ und Mitarbeiter beim Zentrum für demokratische Kultur (ZDK), wo er sich mit islamistischer Radikalisierung und Antisemitismus in der muslimischen Community beschäftigt. 2015 erschien sein Buch „Generation Allah – Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen“ (S. Fischer Verlag).

 

Dieses Interview ist zuerst in der TAGESPOST erschienen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert