Davor, danach und da drüben

Foto: Büro Hirte

Ein Gespräch mit dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, Christian Hirte, über die Besonderheiten Ostdeutschlands.

Die Wiedervereinigung ist 28 Jahre her. Wo unterscheiden sich die Ostdeutschen tatsächlich noch von den Westdeutschen?

Der Osten ist fast ausschließlich ländlich geprägt, mit all den Folgen für Demografie, Infrastruktur, Ärzteversorgung oder Breitband. Die Wirtschaft ist kleinteiliger. Es fehlen Konzerne, die hochbezahlte Jobs bieten und ein Umfeld für viel Innovation. Bei den Menschen, auch der mittleren Generation wie meiner, besteht der Unterschied vor allem im großen persönlichen Umbruch. Unser Leben teilt sich in eine Geschichte vor 1989 und eine danach. Und wie man das Leben „davor und danach“ beurteilt, hängt oft davon ab, was man damals zu bewältigen hatte.

Welche ostdeutschen Lebenserfahrungen müssen deutschlandweit eingebracht werden?

Zunächst tun wir gut daran, alle Schicksalsschläge der Jahre 1989/90 ernst zu nehmen. Auch die Enttäuschungen, die entstanden sind, dürfen wir nicht einfach wegwischen mit der Begründung, dass die Lage heute wirtschaftlich stabil und insgesamt erfolgreich ist. Die massiven Veränderungen haben die Menschen aber auch stolz gemacht. Sowohl die Geschichte der friedlichen Revolution als auch die Bewältigung dieses gesellschaftlichen Resets sind ein Grund, heute selbstbewusst zu sein und die eigenen Interessen der Gegenwart mutig und offen auszusprechen. Dazu kommt die Lebenserfahrung, dem Staat gegenüber einerseits hohe Erwartungen zu haben, andererseits ihm zu misstrauen. Das scheint ein Widerspruch, aber er prägt das Verhältnis der Ostdeutschen zu Politik und Gesellschaft.

Sind Ostdeutsche deshalb anfälliger für Rechtspopulismus?

Der Populismus ist dort stark, wo es Abstiegsängste, gesellschaftliche und soziale Spannungen gibt. Es ist kein Zufall, dass die AfD auch im Westen dort stark ist, wo einst die SPD ihre Hochburgen hatte. Die Nachwehen industriellen Niedergangs haben dort frühere Gewissheiten über den Haufen geworfen. Deshalb ist es eine politische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich niemand vergessen fühlt.

Bei Ostdeutschen begegne ich immer wieder dem Gefühl der Bevormundung. Wünschen sich Ostdeutsche, aufgrund der eigenen Diktaturerfahrung, eine andere Debattenkultur in unserem Land?

Das mag sein. Wir beobachten in ganz Osteuropa eine Skepsis gegenüber Medien, Organisationen, Bürokratie. Der Wunsch nach einfachen Antworten auf die Komplexität unserer Zeit ist allgegenwärtig. Ich glaube, der Osten Deutschlands ist in diesen Dingen vielleicht gar nicht so weit weg von Ländern in Ost- und Mitteleuropa. Die Trennlinie verläuft aber in allen Ländern immer zwischen Stadt und Land, also auch hier wieder zwischen strukturstärkeren und -schwächeren Regionen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass westliche Wohlfahrtsversprechen eben nicht alle Menschen gleichermaßen erreicht haben. Dass dann die Skepsis steigt, ist eine erwartbare Konsequenz.

Wie schätzen Sie die christliche Prägung Ostdeutschlands ein?

Zwischen 15 und 20 Prozent der Ostdeutschen sind noch Mitglieder einer Kirche. Martin Luther wäre heute in Wittenberg ein theologischer Eremit.

In der Wendezeit war die Evangelische Kirche ein gesellschaftlicher Faktor. Warum hat sich das danach nicht erhalten?

Die Revolution von 1989 wäre ohne den geschützten Raum der Kirche wahrscheinlich so nicht möglich gewesen. Die von Kirchen oft angestoßenen gesellschaftlichen Debatten empfinden viele Ostdeutsche als lebensfremd. Und damals waren die Kirchen ja nicht voll, weil das Wort Gottes verkündet werden sollte, sondern es war eher dem Mangel an anderen Orten der Sicherheit geschuldet. Nach 1990 waren die Probleme vieler Menschen zudem allzu irdisch, da blieb wenig Raum für Transzendenz.

Spielen christliche Positionen im Osten überhaupt eine Rolle?

Das käme darauf an, was man unter „christlichen Positionen“ versteht. Die Sehnsucht nach Frieden in der Welt ist schon für viele Menschen ein Thema. Aber zwischen Kardinal Woelki und Margot Käßmann liegt eben eine große Bandbreite an Dingen, die die Kirche meint, thematisieren zu wollen. Manches davon sind wahrscheinlich Themen und Positionen, die Menschen im Alltag nicht über die Maßen beschäftigen.

Führt die Areligiosität vieler Ostdeutschen aus Ihrer Sicht zu Ängsten vor islamisch geprägten Flüchtlingen?

Die Sorge gegenüber Migration würde ich nicht damit begründen, dass die Menschen religiös unmusikalischer sind. In Cottbus beispielsweise hat sich binnen drei Jahren die Zahl der Ausländer fast vervierfacht. Ich möchte sehen, wo in Deutschland so etwas ohne Folgen bliebe. Und vergessen wir nicht: Die eigentlich massiven Probleme mit Migration haben wir nicht seit 2015, sondern es sind die Folgen der fehlenden Integration von Zuwanderern in den letzten 50 Jahren in der Bundesrepublik. Die Menschen im Osten haben große Sorge, dass sie heute vor einer Entwicklung stehen, die auch einmal endet wie in manchen Stadtteilen westdeutscher Großstädte.

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