„Integration ist bisher am Zugehörigkeitsgefühl gescheitert“

Foto: Land NRW | Foto: R. Sondermann

Staatssekretärin Serap Güler ist dagegen, dass Eltern ihre Kinder zunehmend zum Kopftuch animieren.

Frau Güler, Ihre Forderung nach einem Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 Jahre an den Schulen in NRW hat für mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Warum ein Verbot?

Wir prüfen gerade, welche Möglichkeiten es gibt. Wichtig war uns, dass wir die Debatte anstoßen. Österreich hat inzwischen ein Kopftuchverbot verkündet und ich selbst habe das schon vor zwei Jahren auf dem Bundesparteitag der CDU thematisiert. Wir sind uns durchaus bewusst, dass die Kopftuchfrage bei jungen Mädchen hier kein Massenphänomen ist. Das haben wir so ja auch immer wieder gesagt. Es ist aber ein Trend, der zunimmt. Uns geht es hier um das Kindeswohl, insbesondere die freie Entfaltung der Kinder. Deswegen war diese Debatte meines Erachtens auch überfällig.

Wird durch die Kopftuchdebatte nicht eher das Scheitern der Integration formalisiert?

Das Kopftuch ist keine Frage von Integration, sondern von Religiosität. Wenn eine Frau selbstbestimmt zur Entscheidung gelangt, Kopftuch zu tragen, haben wir das zu akzeptieren. Es wäre falsch, davon auszugehen, dass das Kopftuch automatisch bedeutet, diese Frau sei nicht integriert. Es geht uns nicht um eine generelle Debatte über das Kopftuch. Wenn wir aber zunehmend Eltern haben, die ihre Kinder dazu animieren ein Kopftuch zu tragen, dann sehe ich Handlungsbedarf. Ich bin Staatssekretärin für Integration und unser Haus ist auch zuständig für Kinder- und Jugendpolitik. Es ist vielmehr eine Wertedebatte als eine Integrationsdebatte.

Daher haben Sie ja auch gerade erst eine „Offensive für Wertevermittlung und Demokratie“ an Schulen, Kindergärten und Jugendeinrichtungen angekündigt. Warum ist das notwendig?

Aufgrund der letzten Ereignisse. Schauen Sie beispielsweise auf den antisemitischen Angriff vor wenigen Tagen in Berlin. Lassen Sie uns aber auch ein wenig weiter zurückgehen, wenn sich türkischstämmige Menschen am Rheinufer in Köln versammeln und sich etwa für die Todesstrafe aussprechen. Alles Menschen, die seit Jahrzehnten hier in Deutschland leben.

Daher müssen wir über Werte sprechen. Wir haben es weniger mit Demokratiedefiziten als vielmehr mit einem falschen Demokratieverständnis zu tun. Wir müssen unsere Demokratie und ihre Werte vermitteln, damit diese Menschen sich nicht der türkischen Politik zuwenden, die ein anderes Verständnis von Demokratie hat.

An dieser Stelle noch mal zur Integration. Was bedeutet dieser Begriff für Sie?

Wir reden in den letzten zwei Jahren fast nur über Flüchtlinge, wenn wir von Integration sprechen. Integrationsherausforderungen gibt es aber auch bei alteingesessenen Migranten, so zum Beispiel bei den Türken oder den Russlanddeutschen, die sich stark mit Erdogan oder Putin verbunden fühlen. Das macht deutlich, dass Integration nicht mit Sprache, Bildung und Arbeit erledigt ist. Wir müssen in der Debatte über Integration viel mehr darüber reden, was unsere Gesellschaft zusammenhält und was sie ausmacht. Im Koalitionsvertrag haben wir das als Wertedebatte bezeichnet.

Kommt da wieder die Debatte um die deutsche Leitkultur?

Nein, auch wenn ich persönlich nichts gegen eine deutsche Leitkulturdebatte habe. Eine solche Debatte müsste aber völlig anders verlaufen als vor 15 Jahren, als die Politik definieren wollte, was „deutsche Leitkultur“ ist und dass sich alle daran zu halten hätten. Diesmal braucht es eine gesamtgesellschaftliche Debatte, in der sich auch Menschen mit Migrationsgeschichte wiederfinden.

Viele meinen ja, dass das Grundgesetz als Leitplanke völlig ausreichen würde. Das Grundgesetz muss aber auch erklärt werden. Viele verwechseln beispielsweise Antisemitismus mit Meinungsfreiheit. Daher müssen wir in einer breiten Debatte deutlich machen, dass das Existenzrecht Israels Teil der deutschen Staatsräson ist. Antisemitismus ist völlig inakzeptabel und hat rein gar nichts mit freier Meinungsäußerung zu tun.

Genauso inakzeptabel ist, dass Menschen mit ausländisch klingenden Namen sich mehr um einen Ausbildungsplatz bemühen müssen. Das hat ebenso nichts mit „Leitkultur“ zu tun.

Schulen und Kitas sind der Motor für Integration. An manchen Schulen in NRW sind Kinder mit Migrationshintergrund in der Mehrheit. Was bedeutet das für die Integration?

In manchen Städten, beispielsweise in Köln, haben wir Schulen, wo der Migrationsanteil bei über 80 Prozent liegt. Der Prozentsatz allein ist noch kein Problem. Wenn diese Schulen aber in sozialen Brennpunkten liegen, dann kommen da einige Probleme und Herausforderungen auf uns zu. Ich bin keine Staatssekretärin für die Schulen, denke aber, dass man hier gemeinsam nach neuen Konzepten im Sinne der Integration suchen sollte. Hauptaugenmerk, das betone ich noch einmal, muss hier die Demokratieentwicklung haben. Schüler und Lehrer müssen dabei gefördert und unterstützt werden. Daher wollen wir ja Demokratie- und Wertevermittlung stärker als bisher an den Schulen verankern.

Bei Schulen, die einen Migrationsanteil von 80 Prozent aufweisen, stellt sich mir aber gerade die Frage nach der Notwendigkeit der Integration bei den Schülern?

Ich glaube, das ist eine falsche Interpretation von Integration. Die Kinder, die Sie ansprechen, sind im Zweifel alle deutsche Staatsbürger. Die Frage ist mehr, wie schaffen wir es, dass sich diese Menschen auch viel mehr als Deutsche fühlen und sich zu diesem Land bekennen? Es ist eben keine Sprachbarriere, die hier vorherrscht. Wir haben sogar Meldungen von einigen Eltern mit Migrationsgeschichte bekommen, dass ihre Kinder kaum noch ihre Sprache sprechen.

Da sieht man, wo Integration gescheitert ist, nicht unbedingt an der Teilhabe im System. Das viel größere Problem, was wir auch lange integrationspolitisch ignoriert haben, ist dieses Zugehörigkeitsgefühl. Weil es vielleicht auf der anderen Seite Bestrebungen gibt, diesen Leuten das Gefühl zu geben, ihr gehört nach wie vor zu uns, egal wo ihr lebt oder was ihr macht. Dem haben wir in der Vergangenheit zu wenig entgegengesetzt oder zu wenig Angebote gemacht, dass die Menschen sagen, ich lebe jetzt in einem anderen Land und dem fühle ich mich zugehörig.

Identitätssuche und das Gefühl der nicht vorhandenen Chancengerechtigkeit spielen also eine große Rolle. Wie schaffen wir es, dass die Menschen mit Migrationshintergrund in der Schule auch stärker eine gymnasiale Empfehlung erhalten?

Es gibt verschiedene Studien, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Alle kommen zu einem sehr ähnlichen Ergebnis, wenn wir jetzt eine grobe Einordnung vornehmen, dass 40 Prozent der Kinder mit türkischer Migrationsgeschichte eine Hauptschule besuchen und im Vergleich dazu 14 bis 15 Prozent ein Gymnasium. Türkischstämmige Kinder sind aber nicht dümmer. Mitunter bekommen diese Kinder jedoch keine gymnasiale Empfehlung, weil manche Lehrer glauben, dass das Kind keine Unterstützung durch die Eltern erhalten würde, weil sie das Kind vor einem Scheitern auf dem Gymnasium bewahren wollen. Gut gedacht ist aber nicht gut gemacht.

Die Lehrer könnten beispielsweise in Elterngesprächen noch deutlicher machen, dass das, was sie selbst an Unterstützung nicht leisten können, vielleicht aus dem Umfeld oder durch Nachhilfe kommen kann. Zu schauen, wo das Kind unterstützt werden kann, scheint mir der bessere Weg als der Glaube, dem Kind eine negative Erfahrung ersparen zu müssen.

Was müssten aber auch die Eltern machen?

Natürlich müssen wir die Eltern stärker ins Boot holen. Wir haben in NRW ein „Eltern Netzwerk NRW“, in dem Eltern mit Migrationsgeschichte enorm viel leisten und Gutes machen. Dennoch gibt es Eltern, die wir nicht erreichen.

Hier noch mal zur Kopftuchdebatte zurück. Es heißt ja oft, dafür braucht man keine Regelung oder gar Verbote, sondern ein Gespräch der Lehrer mit Eltern sei viel wirksamer. Ich höre aber immer wieder von Lehrern, dass sie an die Eltern einfach nicht rankommen. Das ist eine große Baustelle. Hier schauen wir mit Experten, wie wir genau diese Eltern erreichen können. Hier denken wir beispielsweise an die Zusammenarbeit mit anderen Verbänden, auch mit Moscheegemeinden. Ich denke, dass wir alle Mittel nutzen müssen.

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